Ein fantastischer Neuzugang – Antoine Lefebvres “La Bibliothèque Fantastique” (Oder die Frage: Wann ist ein Buch überhaupt ein Buch?)
Seit Dezember 2014 beherbergt das Archiv Artist Publications in München eines der wohl spannendsten Bibliothekskonglomerate unserer Zeit – “La Bibliothèque Fantastique” von Antoine Lefebvre. 2009 begann der Künstler, Kurator und Verleger, in seiner fantastischen Bibliothek verschiedenste Künstlerbücher zu sammeln und frei zugänglich zu machen. Was diesen Büchern fehlt, ist ihr Warencharakter: Zusammengestellt aus Schwarzweiß-Kopien, entschlackt von ISBN-Nummern, die Namen der Autoren teils überschrieben oder unkenntlich gemacht, werden sie – ganz im Sinne der Appropriation Art – zu eigenständigen Kunstwerken. Texte, Bilder und Titelblätter sind bereits Vorhandenem entnommen und werden, wie etwa Michel Foucaults Essay “La Bibliothèque Fantastique” (auf den Lefebvre sich ganz offenkundig bezieht), vervielfältigt.
Andere Bücher wurden von Künstlerinnen und Künstlern wie Alice Wang und Lawrence Weiner neu produziert, zusammengestellt, überschrieben, bearbeitet oder angeeignet.
Antoine Lefebvre macht “La Bibliothèque Fantastique” nicht nur in Ausstellungen immer wieder einem Publikum zugänglich, die Bibliothek fungiert auch als virtuelle Plattform: Auf der Homepage www.labibliothequefantastique.net stehen die Bestandteile der Bibliothek jedem zu jeder Zeit und von jedem Ort aus zur persönlichen Aneignung – zum kostenlosen Download und Ausdrucken – bereit. Aber kann man überhaupt von Büchern sprechen, die auf der Plattform in digitaler Form bereitstehen? Werden die Dateien erst zum Buch, indem sie in eine analoge Form gebracht werden? Was ist hier Kunstwerk, was Publikation und wer ist der Autor? Derartige Fragen wirft Antoine Lefebvres Idee der LBF auf.
Die komplette Bibliothèque Fantastique ist im Archive Artist Publications ab sofort sowohl in digitaler als auch analoger Form zugänglich. Mit Antoine Lefebvres persönlichem Ausstellungsset der LBF mit 112 gelochten Heften und acht Sonderanfertigungen befinden sich auch exklusive Produktionen, “Originale”, die digital nicht existieren, im Archiv. Dazu gehört auch die vierteilige Dissertation von Lefebvre zum Thema “Portrait de L’Artiste en Editeur – L’edition comme pratique artistique alternative” an der Université Paris 1, Panthéon-Sorbonne, inklusive Katalogteil, fotografischer Dokumentation der Ausstellungen der LBF und einem Band mit Interviews mit Ben Kinmont, Matthew Stadler, Filip Noterdaeme, Bettina Funcke, Ghislain Mollet-Viéville, Dana Wyse, Bernard Brunon und Jean-Claude Moineau.
Ebenfalls zugänglich sind “La Bibliothèque Situationniste” und “La Bibliothèque Pirate”: verschiedene Sammelboxen mit Titeln wie “Collection DADA” oder “Collection Pirate”, die seltene Publikationen der DADA-Mitglieder, Künstlerbücher von Bernd und Hilla Becher, Marcel Broodthaers, Hanne Darboven uvm. beinhalten.
Die “Element Box”, gestaltet von Samuel Yal, zeigt eindrücklich die Grenzen, die Lefebvres Projekt auslotet. Angesiedelt zwischen Publikation und Kunstwerk fungiert das Buch beziehungsweise Heft als Künstlerbuch oder eine Art Katalog. Auch diese Arbeit kann online angesehen, heruntergeladen und ausgedruckt werden. Gleichzeitig ist aber der Inhalt des Heftes – Abbildungen von kleinen Porzellanmasken, die an einer weißen Wand befestigt sind – Anleitung für die eigene Installation der sechs kleinen Porzellanmasken, die der Box beiliegen. Der Besitzer der Box erhält damit selbst die Möglichkeit der Appropriation: er wird aufgefordert, das Arrangement der Masken an der Wand, das abfotografiert wurde, nachzustellen.
Auch die Ausgaben 1–9 der Zeitschrift “Le Carré” (herausgegeben von Antoine Lefebvre), sind ebenso wie “Le dossier Filliou”, einer Art Künstlermagazin mit Beiträgen von Stéphane Lecomte, Jean-Hubert Martin, Charles Dreyfus, Jean Le Gac u.a. neben diversen Postkarten und Plakaten im Archive Artist Publications versammelt. Eine Vielfalt poetischer Singularitäten also, die die Frage nach dem Buch immer wieder aufwerfen.