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Hartmut Andryczuk in den 80er Jahren
Ein fiktives Interview mit Wolfgang Müller:

- Wo warst du in den 80er Jahren und was hast du in dieser Zeit gemacht? -
Ich habe mich hauptsächlich in niedersächsischen Kleinstädten herumgetrieben, einen unsteten Lebenswandel geführt und selten ein geregeltes Einkommen gehabt, was ja bei jungen Leuten in dieser Zeit nichts Besonderes war. 1981 verschlug es mich nach Göttingen, wo ich mit einem Kunst- und Literaturstudenten die "Gruppe Solypse - Charmante Schamanen" gründete. Der Name "Solypse" leitete sich von dem Begriff Solipsismus ab, der philosophisch einen extremen Subjektivismus kennzeichnet. Philosophisch wurde dieser Begriff von René Descartes geprägt und zeigt eine Haltung, die die Aussenwelt als nur existente Form der eigenen Bewusstseinsinhalte akzeptiert. Extremer Solipsismus lässt daher überhaupt keine anderen Realitäten zu als die eigenen Bewusstseinsinhalte. Natürlich hatten wir Vorbilder - in der Literatur waren es hauptsächlich Samuel Beckett, aber auch zu jener Zeit und in unserem konkreten Umfeld noch unbekannte Autoren wie Konrad Bayer oder Velimir Chlebnikov.
Unsere erste Literatur-Performance in der Galerie Apex unter dem Titel "La Waltz - Phoenix come on" (eine Anspielung auf ein Joyce-Zitat) stieß dann auch vollständig auf Unverständnis beim Publikum, dass ja nur politisches und sozialkritisches Kabarett gewöhnt war. Ein Kritiker namens Braun des "Göttinger Tageblatts" verließ während der Performance wütend und türschlagend den Raum und schrieb über uns, dass wir die Sprache zertrümmern wollen und auf die Zahlungsfähigkeit der Krankenkassen vertrauen.
Trotzdem konnten wir in den Folgejahren weiterhin in der Galerie Apex auftreten - und Dinge verwirklichen, die es in dieser Stadt nicht gab. Niemand hat zum Beispiel bis heute den hervorragenden Text "Der Kopf des Vitus Bering" von Konrad Bayer mit E-Gitarrenklänge vertont.

- Warst du nur in Göttingen aktiv?
- Nein, wir sind auch in Hannover, Hildesheim, Bremen und Kassel aufgetreten. In Hannover nahmen wir an mehreren Performance-Festivals in der Galerie Odem zusammen mit Boris Nieslony, Oliver Hirschbiegel und einem Künstler namens Walter Baumann teil, dessen Markenzeichen es war, als Adolf Hitler aufzutreten. Und natürlich bemühte ich mich immer um Auftrittsmöglichkeiten, was manchmal zu peinlichen Ergebnissen führte. So erinnerte ich mich an eine Performance vor drei Gästen, die völlig desinteressiert im Café Grün in Bremen in ihren Zeitschriften blätterten und uns keines Blickes würdigten. Kurioserweise hieß diese Aktion "Kanarienvögel aus Mitleid". Es gab viele Aktionen dieser Art, aber auch schöne Veranstaltungen vor vollem Haus - wie bei der sogenannten "Gegenwart II" in der Werkstatt Südstadt in Hannover, wo ich anhand einer mechanischen Schreibmaschine, die mit einem Pickup präpariert wurde, eine Wort-Perkussion und eine Art "Autisten-Tanz" performte, indem ich anschliessend zu der Musik auf meinem Walkmann tanzte, während das Publikum eine ganz andere Musik aus den Lautsprechern hörte.

- Seid ihr nie in einer großen Stadt aufgetreten?
- Wie gesagt war ich immer auf der Suche nach Auftrittsmöglichkeiten. Da hieß es zum Beispiel, dass Boris Nieslony wichtig sei. Der würde in einem Künstlerhaus in Hamburg sitzen und Performances veranstalten. Also dachte ich sofort: anrufen und besuchen. Folgerichtig fuhr ich nach Hamburg, besuchte Boris Nieslony und fragte nach einer Auftrittsmöglichkeit. Der antwortete gar nicht darauf, belehrte mich über Kunst und hatte einige Leute um sich versammelt, die mir das Gefühl vermittelten, dass Performances nicht wichtig seien. Ich wurde dadurch total verunsichert und hatte das Gefühl, dass ich mich mit den Künstlern dort erst befreunden muss, um akzeptiert zu werden. Es kam mir wie in einer Art Sekte vor. Geheimnisvoll sprachen sie über irgendwelche "Container-Projekte", tranken viel Schnaps und schienen ständig meine Authentizität prüfen zu wollen. Ich war froh, wieder in Hildesheim zu sein, wo ich damals wohnte. Dort konnten wir wenigstens in ein türkisches Café gehen und uns die Dokumentation unserer Performances auf dem Festival in Hannover ansehen, weil wir kein Videoabspielgerät hatten. Unter anderem sah ich mir mit türkischen Familienvätern meine Performance "Marriage" an, wo ich ganzkörperrasiert und mit schwarzem Isolierband umwickelt ständig Milch ausspuckte und anschließend Weingläser mit einer Schere zerschnitt. Die Performance wurde überhaupt nicht bewertet. Im Künstlerhaus Hamburg oder in irgendeiner Videogalerie in Mannheim hätte man dazu nur gesagt: "Ach, Deutschland privat" oder "Rudolf Schwarzkogler lässt grüßen".

- Hast du schon in dieser Zeit publiziert?
- Ja, es gab einige Veröffentlichungen - meist in literarischen Zeitschriften oder in Lesebüchern. Und wir gaben bereits eine kleine Künsterzeitschrift namens "Solypse-Prospekte" heraus, die von Kretschmer & Großmann vertrieben wurde, die neben Beuys und Kippenberger solche Nobodys wie mich in ihren Vertrieb aufnahmen. Zu Hubert Kretschmer habe ich noch heute Kontakt.

- Wie hast du damals die Szene in Berlin wahrgenommen?
- Die wilde Malerei fanden wir beinahe ausnahmslos doof. Uns nervte daran dieses existentialistische und imperiale Gehabe. Bilder mussten groß sein, um wahrgenommen zu werden. Man legte mir nahe, große Bilder zu malen. Ich probierte es zweimal auf alten Postsäcken und hielt nichts davon. Ich blieb lieber beim Notizenhaften, Flüchtigen, dem intimen kleinen Format oder bei den Polaroids, die man während des Entwicklungsvorgangs noch mit Stift oder Schreibmaschine bearbeiten konnte. Überhaupt schien das Intellektuelle eine Art Feind zu sein. Es gab natürlich sehr viel Witziges und Anarchistisches wie die Gruppe Endart, aber richtig heraus aus dieser Szene fiel eigentlich nur "Die Tödliche Doris". Die entzog sich nach unseren Augen allen gängigen Kunstgehabe und schien ihrer Zeit weit voraus zu sein. Mit ihr fühlten wir uns eigentlich sehr verwandt.
Berlin war damals natürlich die Orientierung für jeden Künstler und alle Städte in Niedersachsen waren Vororte von Berlin. Für Kain Karawahn war das natürlich ebenso.
Der stellte zunächst in einem Café Fotografien von Göttinger Punks aus. Wir wussten schon damals, worauf er hinaus wollte: mit plakativen Bildern und Aktionen möglichst schnell bekannt werden. Wir ignorierten ihn damals und er ignorierte uns. Dann hörten wir davon, dass er in Berlin mit seinen Feuer-Aktionen langsam bekannt wurde. Das wunderte uns nicht: Feuer an der Mauer machen und in einem Ledermantel herumlaufen bestätigte nur unser Bild. Trotzdem wurde uns Göttingen als Spielplatz langsam zu eng.

- Und dann bist du nach Berlin gezogen? - Zunächst war Hamburg noch eine Option für mich. 1982 organisierte ich in Göttingen den "Tag der jungen Poesie", ein Literaturfestival mit jungen Autoren wie Eckart Rhode oder Peer Schröder. Der Verleger Michael Kellner war auch dort und mit ihm war ich seit dieser Zeit in Verbindung. Ich war einige Male in Hamburg und lernte Hilka Nordhausen, Hannes Hatje, Vlado Kristl und Ulli Dörrie kennen. Einmal war auch Heinz Emigholz dabei. Mein Eindruck von Hamburg war doch der einer kleinen überschaubaren Szene - bekannter und weltoffener vielleicht, aber den Göttinger Bedingungen gar nicht so unähnlich.
Ich entschied mich dann doch für Berlin, weil man hier auch anonymer sein konnte, organisierte noch das Kunstfest "Ganymed" in der Gauß-Sternwarte in Göttingen mit einem Alphornbläser, literarischen Performances und einer Slawistik-Studentin, die über Velimir Chlebnikov referierte und verließ dann Göttingen.
- Die Gruppe Solypse löste sich nicht offiziell auf, war aber mit ihren Aktionen erfolglos geblieben, aber ehrlich gesagt liegt ja im Scheitern auch das Glück, neue Dinge wahrzunehmen und neuen Impulsen zu folgen.

Für ein Buchprojekt von Wolfgang Müller.
Mai 2011

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